[aus der Schuman-Erklärung,9. Mai 1950]
Die ursprünglichste Form des Reisens war wohl das Pilgern (so wurden Pilger im Mittelalter auch „Reyssläufer“ genannt). Dieses steht seit jeher für die Sehnsucht nach einem übergeordneten (Lebens-)Ziel und -sinn und für die Lust, sich mit Empathie und Neugier auf die Welt und auf fremde Kulturen einzulassen. Die Begegnung mit dem Fremden fördert die Bereitschaft, sich selbstkritisch mit den Mustern der eigenen Denk- und Handlungsgewohnheiten auseinanderzusetzen. Wer sich unterwegs auch dafür öffnet, die eigenen Wertvorstellungen im Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben, zu reflektieren und sich mit anderen auszutauschen, gewinnt nicht nur an innerer Stärke und Lebensmut, sondern auch die Motivation, die Realität mitzugestalten.
Im Rahmen des europäischen Modellprojektes „Sternenweg/Chemin des étoiles“ sind Menschen in diesem Sinne zu einer Spurensuche auf den versunkenen Wegen der mittelalterlichen Jakobspilger in einer facettenreichen Großregion im Herzen Europas eingeladen. Die Erkundungen entlang der wiederentdeckten Routen bieten die Gelegenheit, mittelalterliche „Zeitzeugen“ der Pilgerschaft zu entdecken, um nachzuspüren, was Menschen, Zeit(en) und Lebensräume nachhaltig verbindet. Dieses wert[e]volle Unterwegssein erlaubt, auszuloten, in welcher Welt wir – in Anbetracht der Vergangenheit – leben möchten und für welche Werte wir stehen.
Inspiration für das „geistige Gepäck“ beim Wandern entlang der Sterne bietet der nachfolgende Wertekanon. Die darin beschriebenen Werte spiegeln summarisch das soziale, geistige und kulturelle Fundament Europas und verstehen sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – als Impulsgeber und Orientierungshilfe zum Ein- und Weiterdenken. So können diese Wertvorstellungen unterwegs oder beim Innehalten auf kreative Weise reflektiert werden und zu einem neuen Selbstverständnis über den gesellschaftlichen Zusammenhalt und europäische Grundwerte beitragen.
Auswahl gesellschaftlicher Grundwerte als Rahmenbedingung eines selbstbestimmten, menschenwürdigen und schöpferischen Zusammenlebens.
Damit es Frieden in der Welt gibt, müssen die Völker in Frieden leben.
Damit es Frieden zwischen den Völkern gibt, dürfen sich die Städte nicht gegeneinander erheben.
Damit es Frieden in den Städten gibt, müssen sich die Nachbarn verstehen.
Damit es Frieden zwischen Nachbarn gibt, muss im eigenen Haus Frieden herrschen.
Damit im Haus Frieden herrscht, muss man ihn im eigenen Herzen finden.
Laotse, chinesischer Philosoph, 4.-3. Jh. v.Chr.
Frieden bezeichnet einen Zustand zwischen Einzelnen, Gruppen oder Staaten, der frei von (gewaltvollen) Auseinandersetzungen und Kriegen ist und in welchem aufkommende Konflikte mithilfe von Regeln und Gesetzen gewaltfrei beigelegt werden. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die Tugend der „Friedfertigkeit“ und die Bereitschaft, sich aktiv um Frieden zu bemühen. Auch der einzelne Mensch kann in der Selbsterfahrung, in der Auseinandersetzung mit sich selbst ein Gefühl von „Infriedenheit“, einen sog. „inneren Frieden“ erreichen. Den (inneren) Frieden zu suchen, bedeutet einen Lebensweg einzuschlagen, der sich darauf ausrichtet, im Einklang und in Harmonie mit sich selbst zu leben. Dies ist die Basis dafür, auch nach außen hin Frieden finden zu können und diesen in die Welt hinauszutragen.
Welche eigene Idee dazu habe ich für den heutigen Weg?
Der Zweck unseres Daseins sei auf Bildung der Humanität gerichtet. Unsere Vernunfttätigkeit soll zur Vernunft, unsere feineren Sinne zur Kunst, unsere Triebe zur echten Freiheit und Schönheit, unsere Bewegungskräfte zur Menschenliebe gebildet werden.
Johann Gottfried von Herder (1744-1803)
Humanität steht als Begriff für (Mit-)Menschlichkeit und die kontinuierliche kulturelle Bildung des Geistes, die auf die Verwirklichung der Menschenrechte, auf Hilfsbereitschaft und Teilnahme abzielt. Es geht um die Stellung des Menschen in der Welt und für die Welt: Verantwortungsbewusst zu sein, der Wahrheit auf der Spur zu folgen und das Innerste, was das Menschsein ausmacht – die Conditio humana – zu ergründen. Humanität wird sowohl durch den Einzelnen als auch durch die jeweilige Kultur, die sie ausübt, definiert und verlebendigt. Zum humanitären Weltbild zählen in den meisten Kulturen die Werte Würde, Verbundenheit, Mitgefühl, Güte, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit. Zu den elementaren Voraussetzungen einer humanen Lebensführung gehören Offenheit und Freundlichkeit. Die Fähigkeit, die Polaritäten, die sich auf jedem individuellen Lebensweg ergeben, zu erkennen und sie im Wechselspiel zwischen der Innen- und Außenwelt auszubalancieren, falls möglich zu versöhnen, gehört zu den Wesensmerkmalen der Humanität.
Freiheit…
steuert das Selbst vor fremden Zugriff begrenzt das Selbst, wo andere frei sind
hält Distanz vor Zudrang genießt Nähe ohne Übergriff
ruft aus der Beschränkung in die Gewährung entbehrt Angst und Not
verpflichtet zur Ausübung im Miteinander verbreitet in großen Zügen
tanzt für das Gleichgewicht auf dem Seil der Bedürfnisse im Anderen
Peter Michael Lupp
Freiheit ist ein Privileg, von dem noch immer viele Menschen ausgeschlossen sind. Frei zu sein bedeutet, Entscheidungen selbstbestimmt und ohne äußeren Zwang treffen zu können. Zur Freiheitserfahrung gehört jedoch, dass der Mensch den Unterschied von Freiheit und Unfreiheit empfinden kann. Dies bedeutet paradoxerweise, dass Freiheit zur Entfaltung auch Grenzen braucht, die im Streben nach der eigenen Freiheit reflektiert werden müssen. Freiheit erfordert Selbsterkenntnis und Eigenverantwortung im Denken und Handeln. Frei ist, wer mit sich selbst in Einklang steht und das Geschenk der Freiheit mit Dankbarkeit und Sinn ausgestaltet.
Demokratie heißt immer: die Bereitschaft, nicht nur die eigenen Interessen zu sehen, und die Fähigkeit zum Ausgleich und Kompromiss.
Frank-Walter Steinmeier
Die Demokratie (von altgriechisch δημοκρατία‚ Herrschaft des Staatsvolkes) bildet die Grundlage unserer europäischen Gesellschaft. In demokratischen Staaten geht die Regierung durch (freie und gleiche) politische Wahlen aus dem Volk hervor. Zu den wichtigsten Merkmalen der Demokratie zählen Meinungs- und Pressefreiheit, Gewaltenteilung, Verfassungsmäßigkeit sowie Schutz der Grund-, Bürger- und Menschenrechte. Eine demokratische Kultur darf die ethischen und religiösen Lebensformen, die in einem pluralistischen Gemeinwesen zusammenkommen, weder ignorieren noch negieren, sie muss sie vielmehr in sich aufnehmen und so integrieren, dass der Grundsatz des Respekts für alle Bürger gleichermaßen gilt. Demokratie braucht Menschen, die ein Interesse am Gemeinwesen und Gemeinwohl hegen und bereit sind, sich aktiv für sie zu engagieren. Dies setzt voraus, dass sich die Menschen untereinander als gleichwertig respektieren, das eigene Interesse nicht absolut setzen und den Mut zum offenen, fairen Meinungsstreit, aber auch zum Kompromiss haben. Insofern ist die Demokratie auch die maßgebliche Voraussetzung für Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Eine demokratische Lebensgestaltung innerhalb von Gemeinschaften sucht daher immer einen konstruktiven Ausgleich zwischen dem Ich und dem Wir.
Das menschliche Sozialverhalten, das insbesondere auf Emotionen basiert, bildet einen wesentlichen Faktor, damit ethische und moralische Wertvorstellungen nicht nur verstanden und respektiert, sondern auch verinnerlicht werden. Nur so können sie im alltäglichen Handeln auch eine Relevanz bekommen und Frieden und Gemeinwohl fördern und voranbringen.
Ohne Toleranz können wir kein Mitgefühl entwickeln.
Dalai Lama
Toleranz bezeichnet das Akzeptieren und Respektieren der Sichtweisen, Handlungen und Gebräuche anderer und ist ein zentrales Wesensmerkmal der Demokratie. Toleranz ist zugleich eine wichtige Voraussetzung für Gleichberechtigung, Vielfalt und die Vermeidung von Ausgrenzung. Im gesellschaftlichen Diskurs hat Toleranz eine große Bedeutung. Sie wird z.B. im Zusammenhang mit Religiosität, sexuellen Neigungen, kulturellen Unterschieden und alternativen Wertesystemen und -gemeinschaften diskutiert. Die Grenzen der Toleranz liegen dort, wo anderen diese grundlegende Form der Achtung und Gleichbehandlung vorenthalten wird. Die Verantwortung dafür, dass diese Grenzen beachtet werden, kann allerdings nicht vollständig an den Staat abgetreten werden. An erster Stelle sind es die Menschen selbst, die dazu verpflichtet sind, Toleranz zu üben und anderen mit Duldsamkeit, Geduld und Achtsamkeit zu begegnen.
Schweigen umgibt alles gemeinsame Handeln und alles Zusammenleben
Freundschaft braucht keine Worte
Sie ist die Einsamkeit die von der Furcht vor der Einsamkeit befreit ist.
Unbekannter Autor
Freundschaft bezeichnet eine von Zuneigung geprägte Beziehung, die auf gegenseitiger Sympathie, Wertschätzung und Vertrauen basiert. Für unser soziales Miteinander sind Freundschaften von großer Bedeutung. Aristoteles bezeichnete Freundschaft als „eine Seele in zwei Körpern“. Cicero erkannte „den sicheren Freund in unsicherer Lage“. Die Freundschaft zu einem anderen Menschen geht darüber hinaus auch mit einer immerwährenden Vertiefung der Selbsterkenntnis im Gegenüber einher. Im übertragenen Sinne bezeichnet Freundschaft auch ein gutes und oft vertraglich geregeltes politisches Verhältnis zwischen Völkern oder Nationen (z. B. „deutsch-französische Freundschaft“).
Das Mitgefühl mit allen Geschöpfen ist es, was Menschen erst wirklich zum Menschen macht.
Albert Schweitzer
Mitgefühl umschreibt die Anteilnahme an der Situation eines anderen Individuums und ist eine natürliche, im Menschen angelegte Fähigkeit. Das eigene Gefühl tritt dabei in Resonanz mit dem Gefühl eines anderen Lebewesens. In der Anteilnahme an den Gefühlen anderer erlernen Menschen, besser mit den eigenen Emotionen umzugehen. Eine Abwandlung von Mitgefühl ist Empathie, die Menschen hilft, sich in die Gedanken des Gegenübers einzufühlen, sie zu verstehen, darauf einzugehen und entsprechend zu reagieren. Mitgefühl für andere menschliche und nichtmenschliche Wesen setzt Akzeptanz des eigenen Ichs und Liebe zu sich selbst voraus.
Gemeinsam statt einsam
Begleiten statt leiten Frei Raum Erobern Zugehören zusammen wachsen Wunder tauschen Blicke wenden Nähe schenken Hoffnung spenden weiterdenken
Besser als sonst
Solidarität lässt sich aus der lateinischen Wortbedeutung „gediegen, echt, fest“ ableiten und steht damit im Zusammenhang mit Beständigkeit, Kontinuität und Stabilität. Solidarität beschreibt das Zusammenhalten mit und die Unterstützung von anderen Menschen, deren Ideale, Werte und Ziele man teilt. Sie braucht einen öffentlichen Raum und Nähe, um Anteilnahme, Verbundenheit und Mitgefühl gegenüber anderen zum Ausdruck zu bringen. Dabei geht es auch darum, in einer weltoffenen Gemeinschaft in freundschaftlicher Haltung zusammenzuwachsen, um friedlich für gemeinsame Werte einzutreten.
Fremde(r) reiche mir über die Schwellen die Hand zum WIR
Lass uns Horizonte weiten Heimat schenken Welten öffnen Zukunft hoffen Frieden stiften und tief berühren
In der Begegnung mit anderen Kulturen, Landschaften und mit dem Fremden entstehen unwillkürlich immer wieder neue Eindrücke und Verbindungen. Mit ihnen können Menschen in Resonanz treten und dadurch einen Beitrag zu einem europäischen Zusammengehörigkeitsgefühl leisten. Ziel ist es, eine ethisch tragfähige und achtsame Verknüpfung zwischen den Menschen, ihrer verschiedenartigen kulturellen Prägung, Herkunft und geistigen Haltung zu kultivieren. Mit der weltoffenen Begegnung und dem freundschaftlichen Austausch mit Menschen aus anderen Kulturen geht auch eine Sensibilisierung für die Bedeutung der Achtung der Menschenwürde, die Gleichheit und den Schutz der Menschenrechte einher.
Schöpfung bewahren
Aus dem immer Mehren herausfallen
Nackt am Ende Frei gehen
Ohne Fassung im neuen Raum
Erwachsen Nachhall[t] geben
Zukunft säen [D]ein Samenkorn genügt
Durch unreflektiertes Wachstumsdenken, die Macht der Märkte und unser Konsumverhalten gerät das natürliche Gespür des Menschen für den „Blauen Planeten Erde“ – die Schöpfung – schleichend aus dem Lot. Die Menschheit verbraucht derzeit jedes Jahr etwa 50 Prozent mehr Ressourcen, als die Erde innerhalb dieses Zeitraums regenerieren und damit nachhaltig zur Verfügung stellen kann. Die Erde, aber auch die Menschheit an sich, gerät dadurch zunehmend aus ihrem überlebensnotwendigen, ökologischen und ethischen Gleichgewicht.
Vor diesem Hintergrund erinnert der „Notruf“ – Schöpfung bewahren – an die Verantwortung des Menschen für seinen einzigartigen Lebensraum voller Vielfalt: den Planeten Erde. Obwohl er aus der christlich geprägten Welt entnommen ist, steht er auch überkonfessionell für den Auftrag der Völker und Kulturen, den Raubbau mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen aufzuhalten, um unseren gemeinsamen Lebensraum zukunftsfähig auch für künftige Generationen zu bewahren.
Es geht hierbei auch um das menschliche Maß der Genügsamkeit: die Erkenntnis, dass der Verzicht in unserem Konsumverhalten in vielen Fällen sogar zu einem zufriedeneren Leben führen kann. Dazu braucht es einen beständigen, öffentlichen Diskurs. Die Schöpfung zu bewahren mündet in einem ökologisch und ethisch tragfähigen Verhältnis zwischen Mensch und Natur und gelingt durch nachhaltige Lebensformen auch in ihrer spirituellen Dimension. Wie lässt sich eine Lebensform des „Weniger“ mit Freude, Sinn und Geist kultivieren, eine Gesellschaft bauen, die weniger verbraucht, die Risikospiralen erkennt und vermeidet? Jeder Mensch hat dazu Handlungsspielräume – das ist unser Privileg
Johann Wolfgang von Goethe
Spiritualität handelt von der „Wegkunst“ der Selbstwerdung. In diesem Prozess werden die Wunder des Lebens und der Sinn des eigenen Lebensauftrages, abseits rein rationaler Betrachtungsweisen, in ihrer eigentlichen (Trag-)Weite bewusster und erfahrbar.
Die spirituelle Dimension entfacht sich im gezielten Innehalten und in der aufrichtigen Hingabe. Übergeordnet eröffnet sich der Menschheit in der Einbeziehung der spirituellen Dimension die Chance, den Sinn der menschlichen Existenz und deren ethische und moralische Aufgabenstellung begreifbarer zu machen und entsprechend zu handeln. Hierin liegt eine geistige Ressource, um den anstehenden Wandel innerhalb unserer Gesellschaft zu Gunsten einer besseren Welt zu bewältigen.
Einen Zugang, um spirituelle Wirklichkeit zu erfahren, bieten Übungen der Verlangsamung, der Achtsamkeit, der ungeteilten Andacht, der Meditation oder des inneren Gebetes (im überkonfessionellen Kontext). Dazu braucht es Orte, an denen diese Übungen ungestört zelebriert werden können und Zeit, in der etwas reifen und ausheilen kann. Meditatives Unterwegssein auf dem „Sternenweg“ und das Innehalten an besonderen Orten der Vergangenheit bieten dazu eine Vielzahl an individuellen Erfahrungsräumen.
Der Atem fließt langsam und tief durch die Nase ein und aus.
In der Ein- und Ausatmung stabilisiert sich Dein inneres Gleichgewicht.
Die tiefe Ein- und Ausatmung zentriert Dein Selbst.
Lasse Dich mit voller Hingabe tief nach Innen hineintragen zu Deinem Seelengrund.
Die Gedanken ziehen wie Wolken davon und lösen sich nach und nach wie von der Sonne erwärmt auf.
Aus der Gedankenleere entspringt die Quelle der Schöpfung. Das Wesentliche tritt fühlbar hervor. Der Weg des guten Lebens öffnet sich.
Nach der Meditation stehe auf und lass den Moment ausschwingen, atme noch einmal tief und ruhig durch die Nase ein und aus.
Hinein zum Seelengrund.
Heraus, um Deinen Weg beherzt weiterzugehen.